Wenn Berichterstattung zum Pranger wird
In den letzten Tagen ging ein Fall durch die Medien, der viele Menschen aufwühlt – auch mich. Nicht, weil ich den Mann kenne, nicht weil ich den Fall seit Jahren verfolge, sondern weil ich das Gefühl habe: Hier läuft etwas gewaltig schief.
Ein Mann wird aus der Haft entlassen. Er trägt eine elektronische Fußfessel. Er hat keine Wohnung. Und plötzlich steht sein Fall wieder überall: groß, plakativ, öffentlich. Die Medien überschlagen sich. Und ich frage mich: Warum eigentlich?
Keine neuen Fakten. Kein Erkenntnisgewinn.
Was genau sagt dieser Artikel aus? Dass jemand freigelassen wurde, weil es gesetzlich so vorgesehen ist? Dass er sich in Schleswig-Holstein aufhält? Was ist die Absicht? Was soll damit erreicht werden?
Wenn wir ehrlich sind, bleibt nicht viel übrig außer: Empörung schüren. Angst streuen. Hetze provozieren. Und das alles auf dem Rücken eines Menschen – ob schuldig oder nicht, ist in diesem Moment gar nicht die Frage. Die Strafe ist verbüßt. Das Gesetz ist angewendet worden. Und doch ist der Artikel da – in voller Größe.
Journalismus oder Boulevard?
Ich frage mich: Was hat die Redaktion geritten, diesen Artikel freizugeben? Welche Haltung steckt dahinter? Ist das die vielzitierte „Verantwortung der Presse“, über die sich so viele Redaktionen gerne selbst beweihräuchern? Oder ist es einfach Klicks fangen mit Menschenleben?
Ich habe selbst mal journalistisch geschnuppert, in jungen Jahren – und genau deshalb weiß ich, wie wichtig es ist, nicht nur zu berichten, sondern auch zu bedenken. Journalismus hat Macht. Und mit Macht kommt Verantwortung. Wenn Medien durch ihre Berichte Menschen sozial vernichten, obwohl die Strafe offiziell vorbei ist – dann läuft etwas gewaltig aus dem Ruder.
Was ist mit der Würde?
Stell dir vor, du bist dieser Mensch. Du hast Mist gebaut, ja. Du hast gesessen. Und dann gehst du raus – und die ganze Welt weiß, dass du da bist. Nicht, weil du dich daneben benommen hast. Sondern weil jemand eine Schlagzeile brauchte. Wie willst du so leben? Wie willst du so jemals neu anfangen?
Wir sagen oft: Jeder verdient eine zweite Chance. Aber wenn diese zweite Chance so aussieht, dass dich ein Medienbericht sofort wieder öffentlich brandmarkt, dann ist das keine Chance – das ist eine weitere Strafe. Eine, die nie aufhört. Eine, die dich in die Isolation treibt. Und ja, auch in die Verzweiflung. Bis hin zum Selbstmord. Das muss man so klar sagen.
Ein Appell an die Medienmacher
Bitte: Fragt euch, was eure Worte anrichten können. Fragt euch, ob das, was ihr veröffentlicht, wirklich hilft. Oder ob es nur Klicks bringt. Fragt euch, ob ihr damit journalistisch arbeitet – oder nur noch soziale Sprengsätze zündet.
Ich will keinen Täter schützen. Ich will nur, dass wir nicht vergessen: Auch Täter sind Menschen. Und sie haben Rechte.
Und wer glaubt, dass Pressefreiheit bedeutet, jeden Menschen medial zerlegen zu dürfen – der hat den eigentlichen Wert dieser Freiheit nicht verstanden.
Lasst uns wieder differenziert denken. Nicht brüllen. Nicht brennen. Sondern hinterfragen.